Naheliegende Vermutung und haltlose Unterstellung zugleich: Jedes Mal, wenn ein neues Album der Tindersticks erscheint, möchte man meinen, die Männer um Stuart Staples hätten es sich, so gut es eben geht, bequem gemacht im samtigen Dämmerlicht ihrer verträumten Melancholie - die Welt ist schlecht und dauerhafte Besserung nicht in Sicht, die schwarzen Anzüge gebügelt und griffbereit, ein Königreich für den nächsten traurigen Trinkspruch auf ein Leben in Moll. Nur, nach Bequemlichkeit klingen ihre Platten eben nun mal nicht, wie auch die letzte ist die aktuelle das beste Beispiel für die immerwährende Suche nach neuen Ausdrucksformen, neuen Facetten und Spielarten einer - zugegeben - oft recht traurigen Weltbespiegelung. Wieder, wie schon beim Vorgänger "Falling Down A Mountain", das längste Stück gleich zu Beginn, hier das größtenteils lauschige "Chocolate" - nahe verwandt der ähnlich angelegten rezitativen Meditation "My Sister" vom genialen Debüt - neun Minuten inklusive gezügeltem Jazzintermezzo. "Show Me Everything" kommt gänzlich anders daher, satte Bluesgitarre, Gina Foster als souliger Backround. Dann mit "This Fire Of Autumn" und "Slippin` Shoes" zwei regelrechte Gute-Laune-Stücke, nur Staples` barmende Stimme sorgt hier für die Art von ernsthafter Dringlichkeit, die einem jeden Song der Tindersticks zu eigen ist. "Medicine", der vorausgesandte Ausblick auf dieses Album, hat an Stärke nichts verloren - "Medicine you are, medicine you need, ..." behutsames Raunen, der Beat pocht, das Cello weint und man selbst ist auch nicht mehr weit entfernt, gleich loszuheulen. Irgendwie passt hier alles zueinander, können die behutsam angedeuteten Diskorhythmen von "Frozen" problemlos neben der loungigen Kammermusik von "Come Inside" Platz nehmen - mühelos all das und am Ende irgendwie gar nicht mehr so düster wie in früheren Zeiten. Großer Wurf also, nahezu perfekt.
(mapambulo:blog)
Sie haben sich so sicher wie nie zuvor gefühlt, sagen die Tindersticks und tatsächlich: Mit "The Something Rain" ist der Band um Stuart A. Staples nicht nur eine ihrer besten Platten geglückt – sie gehen damit auch für den Titel ums "Album des Jahres 2012" ins Rennen.
Es ist ein alter Journalistenwitz den besten Longplayer des Jahres bereits zu Beginn der Saison auszurufen und die Sache obendrein bierernst zu meinen – im Falle von den Tindersticks stimmt es aber: "The Something Rain" erscheint dieser Tage mit solch ungeahnter Wucht, dass es als Ausrufezeichen einer Band angesehen werden darf, die es um jeden Preis noch einmal wissen will. Dabei mehren sich zugleich Stimmen, die den wackeren Briten Paroli bieten und Verfechtern der Platte klarmachen, dass das gesamte Werk wie ein Soundtrack zu einem Film anmutet, der mehr Arthouse als unterhaltsam sei – aber auch hinter dieser waghalsigen Zuschreibung steckt ein Funken Wahrheit.
Immerhin beginnt "The Something Rain" mit einem zehnminütigen Opener, der via gesprochenen Lyrics ein Leinwand-reifes Szenario liefert: Es geht um einen Abend aus der Sicht eines Mannes – dieser schlendert durch die Clubs, raucht Zigaretten, trinkt billigen Bourbon, lernt eine Frau kennen und obwohl er sich nichts mit ihr zu erzählen hat, landen sie bei ihr, verbringen die Nacht miteinander. Der Morgen danach ist dann die Fortsetzung auf Albumlänge – weil: Selten klangen die Tindersticks fokussierter, nahbarer und aufgeweckt-dringlicher als hier. Verglichen mit der Spielart, die der Vorgänger "Falling Down A Mountain" preisgab, ist "The Something Rain" ein Versuch über die Momente, die das Leben selten preisgibt.
Freilich erinnert das Ganze an die beiden ersten Werke Mitte der Neunziger, die mit Spiellängen jenseits der berühmten Dreiviertelstunde wie Alterswerke daher kamen – wenngleich die Macher rund um Stuart A. Staples taufrische Newcomer waren. Intelligent und weise vor den Jahren, so klangen ihre Alben allesamt und keines war je neben der Spur. Allein die Art und Weise, wie die Tindersticks regelmäßig Pomp mit Pop kombinieren, Saxofone niemals schwülstig klingen lassen und Staples' Stimme trotz Roger Whittaker-Anleihen gar zu den lieblichsten Songs einen idealen Gegenpart bildet, hinterlässt tiefe Spuren in den Herzen derer, die die Band seit Beginn verfolgen. Dem gegenüber steht die Frage im Raum: Wo wollen die Mannen 2012 hin?
Mit dem bereits erwähnten Vorgänger hat "The Something Rain" nämlich gemein, dass der Psych-Rock Einzug ins Werk erhalten hat und Staples vielleicht deswegen davon spricht, dass es zum zweiten Mal in der Karriere seiner Formation passiert wäre, das alle Beteiligten sich absolut sicher waren, es hier mit einem "in sich fertigem Album" zu tun zu haben. Das erste Mal muss beim 1995 veröffentlichen "Tindersticks (Second Album)" der Fall gewesen sein – welches die Marschrichtung des Debüts aufgriff und diese auf die Spitze trieb, perfektionierte. Reicht es auch diesmal für den Olymp zum Jahrgangsbesten?
Natürlich ist Musik kein Wettbewerb und doch geht es innerhalb der Kritik immer um ein Oben und Unten – die Tindersticks sind mit "The Something Rain" ganz oben angekommen, zum zweiten Mal in ihrer Karriere. Stuart A. Staples hat sich selbst übertroffen und Herrschaftszeiten: wer jetzt nicht schwelgt, dem ist nicht zu helfen.
(Marcus Willfroth, www.motor.de, 16.02.2012)